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DWI-Institutsabend am 26.05.2025

Hilfe – um Himmels willen: Urbane Diakonie und religiöse Resonanzen – aus schweizer Sicht

Am 26.05.25 fand im Rahmen des Institutsabends des Diakoniewissenschaftlichen Instituts Heidelberg ein besonderer Vortrag in der Evangelischen Kapellengemeinde statt: Prof. Dr. Christoph Sigrist aus Zürich – ehemals Pfarrer am Großmünster in Zürich – sprach eindrucksvoll über seine Erfahrungen und Einsichten im Spannungsfeld von Theologie, Stadtkultur und sozialer Verantwortung.

Herr Sigrist in der Evangelischen Kapelle

Ein biografischer Einstieg mit Nachhall

Sigrist eröffnete seinen Vortrag mit einem persönlichen Rückblick: Als Sohn eines Diakons wurde er früh mit einer Form von Glauben und Dienst konfrontiert, die weniger von dogmatischer Strenge als von tätiger Nächstenliebe geprägt war. Ein Satz begleitet ihn hierbei bis heute: „Ein Christ ist immer im Dienst“. Natürlich ist dies nicht immer möglich, aber wurde wieder daran erinnert, als er – scheinbar zufällig – in einen tief bewegenden Kontakt mit einem obdachlosen Menschen geriet. Die Begegnung: ein kurzer Dialog, eine verstörende Lebensgeschichte, verwelkte Blumen für Sigrists Frau, und der Hinweis, dass der Mann Krebs hatte und nur noch einen Monat zu leben hätte. Ein Moment der Unterbrechung – existenziell, göttlich?

Diakonie im urbanen Alltag: Café Yucca und die Realität auf der Straße

Der Weg führte Sigrist schließlich regelmäßig ins Café Yucca, ein traditionelles Obdachlosencafé, das ursprünglich von der Stadtmission Zürich gegründet wurde. Der Ort: zwischen Bordell, Einsamkeit und Uno-Karten – und doch ein Ort gelebter Gemeinschaft. 

Herr Prof Sigrist

Der Wandel: von Stadtmission zu Solidara

Die Geschichte des Cafés ist auch die Geschichte einer institutionellen Transformation. 2011 löste sich die Stadtmission Zürich aus der evangelischen Gesellschaft und wurde zu einem unabhängigen Verein. Mit dem Beitritt der katholischen Kirche entstand ein Diskurs über die Begrifflichkeit – „StadtMISSION“ wurde als zu exklusiv und missionarisch empfunden. Nach einem intensiven Reflexionsprozess entstand 2021 der neue Name: Solidara. Der Verein, mittlerweile interreligiös getragen, ist damit ein Novum – ein Modell diakonischer Arbeit jenseits konfessioneller Exklusivität.

Der Konflikt um christliche Identität

Doch der Wandel blieb nicht ohne Widerspruch. Kürzungen von kirchlichen Mitteln wurden damit begründet, dass sich Solidara vom Evangelium entfernt habe. Dabei blieb die konkrete Hilfe dieselbe. Die öffentliche Debatte entzündete sich an der Frage: Was genau ist eigentlich das Christliche an der Hilfe für Bedürftige?

Prof. Sigrist formulierte es deutlich: die Kirche verlor an Boden, nicht, weil sie weniger Gutes tat, sondern weil es ihr nicht gelang zu vermitteln, warum es unchristlich sein soll, Prostituierten und Obdachlosen zu helfen. 

Herr Sigrist und Frau Neuschwander in der Kapelle

Diakonie ohne Etikett, aber mit Tiefgang

Sigrist plädierte für ein tiefes Verständnis von Diakonie, das sich nicht durch religiöse Etikettierung, sondern durch gelebte Praxis auszeichnet. Mit den Sätzen „Es geht ums Brot, nicht um die Mission“ und „Gott ist nicht Christ – Gott ist Gott“ lud er dazu ein, Diakonie neu zu denken – nicht als religiöses Aushängeschild, sondern als radikale Solidarität mit den Bedürftigen, getragen von einer Theologie, die Gott dort verortet, wo Menschen sich einander in Liebe und Hilfe zuwenden. Die christliche Nächstenliebe sei zwar konstitutiv für das Christsein, aber nicht exklusiv. Gerade in einer pluralen Gesellschaft wie Zürich könne Hilfe viele Begründungen haben. Das Gemeinsame sei das Helfen selbst. Am Uno-Tisch im Café Yucca verschmelzen Konfessionen und Weltanschauungen – nicht im Sinne von Beliebigkeit, sondern in einer tiefen gegenseitigen Anerkennung des Menschlichen. 

Herr Sigrist in der Kapelle. Er hält einen Vortrag.

Ein Abend, der nicht nur informiert, sondern betroffen macht. Und genau das – so Sigrist – ist der eigentliche Gegenstand der Theologie. 

Die Aufzeichnung des Vortrags ist auf YouTube über den Button rechts verfügbar. 

- Anna Breiter