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Bericht zur Exkursion nach Den Haag, Niederlande

 

Dieser Bericht entstand im Zuge unserer dreitägigen Exkursion in die Niederlande, bei der wir mit der diakonischen Arbeit der protestantischen Kirche in Den Haag und Leiden vertraut gemacht wurden und dadurch eine neue Perspektive auf die Diakonie in Deutschland gewinnen durften.

Donnerstag, 13.01.2011

Nl2011lukaskeerkWir (eine Gruppe von 14 Studierenden des Diakoniewissenschaftlichen Instituts Heidelberg und Herr Oelschlägel) trafen in aller Frühe am Heidelberger Hauptbahnhof ein. Ziel unserer Reise sollte Den Haag sein, eine Stadt in den Niederlanden, die Startpunkt einer dreitägigen Wissensreise durch die diakonische Arbeit in Den Haag und Umgebung werden sollte. Bis wir das Ziel allerdings erreichten, ergab sich noch die ein oder andere Schwierigkeit: Seien es verspätete Züge, Züge, die uns einfach nicht haben wollten oder schlicht das Nicht-Vorhandensein eines Zuges, wir hatten auf jeden Fall ziemliches Pech! Jedoch nahmen wir es mit Humor und versüßten uns die Aufenthalte mit gegenseitigem Kennenlernen und „Vesper“. Und wir freuten uns durch die Strapazen umso mehr über den herzlichen Empfang in der „Lukaskerk“  in Den Haag. Während für das leibliche Wohl gesorgt wurde, konnten wir von der Leiterin der dortigen Projekte, Hilly Merx, auch noch so einiges über die diakonische Arbeit in den Niederlanden erfahren:

STEK (Stiftung für Stadt und Kirche) ist eine evangelische Stiftung, die die Verantwortung für verschiedene soziale Projekte trägt. Hauptsächlich getragen von der Diakonie Den Haag betreut sie verschiedene Angebote für jung und alt, wie beispielsweise eine Gartenanlage für die Arbeit mit Burnout-Patienten oder das neu entstandene Projekt „Worldhouse“, eine Einrichtung für nicht registrierte Einwanderer, die einen geschützten Rahmen bietet um soziale Kontakte zu gewinnen und mehr Selbstbewusstsein für neue Lebensperspektiven zu entwickeln.

Eine weitere Einrichtung hat sich unter der Zusammenarbeit mit STEK zum Ziel gesetzt, diakonische Hilfe an notleidenden Menschen zu leisten. „De Halte“ (Die Haltestelle)bezeichnet schon durch ihren Namen ihre Funktion als Zwischenstation für Hilfesuchende. Hier finden alle einen Platz, die „nirgendwo sonst einen Platz finden“. Über Institutionen an diese Adresse verwiesen, finden z.B. Opfer häuslicher Gewalt bei der Haltestelle einen Rückzugsort, bis eine passende Lösung für ihre Situation gefunden wird.

Das diakonische Prinzip des Dienens am Tisch wird in der Suppenküche der Lukaskirche umgesetzt. Besonders am Herzen liegt den Mitarbeitern nicht nur die Grundversorgung mittelloser und hilfebedürftiger Menschen, sondern auch der persönliche Kontakt. Beziehungen knüpfen, etwas über die Geschichte, die Träume eines Menschen zu erfahren, Leid in der Gemeinschaft zu tragen und ein Gebetsangebot sind wichtige Inhalte des diakonischen Verständnisses der Lukaskirche.

Zusätzlich hat es sich die Lukaskirche zur Aufgabe gemacht, auch wohlhabendere Bürger für die Not in ihrer Stadt zu sensibilisieren, Vorurteile zu entkräften und eine Begegnung auf Augenhöhe zu ermöglichen.

Mit STEK haben wir eine Form sozialräumlich ausgerichteten diakonischen Handelns kennen gelernt, in der unterschiedlichste Akteure im Stadtteil sich miteinander vernetzen und Stadtviertel ins Interesse von Diakonie und Kirche rücken. Dass ähnliche Ansätze auch in Deutschland zunehmend wichtiger werden, zeigt die Studie „Mutig mittendrin. Gemeinwesendiakonie in Deutschland“ des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD.

Freitag, 14.01.2011

Auch der zweite Tag unserer Exkursion war dicht gefüllt und versprach spannend zu werden:

Nachdem wir am ersten Tag durch unsere abenteuerliche Anreise einige Stunden zu spät in Den Haag ankamen und den Treffpunkt mit unserer "Partnergruppe" aus Bochum verpasst hatten, stießen wir heute mit ihnen zusammen und machten uns gemeinsam auf den Weg nach Leiden, eine 120.000 Einwohnerstadt vor den Toren Den Haags. (Diese 20-Minütige Zugfahrt sollte - man höre und staune - während unserer gesamten Exkursion die einzige Verbindung bleiben, die nicht von Verspätungen, Umleitungen, oder sonstigen Vorkommnissen betroffen war.)

De BakkerijIm Gegenteil zum Konzept von STEK geht es dem diakonischen Zentrum "De Bakkerij" nicht in erster Linie darum, soziale Projekte zu tragen und diese finanziell zu unterstützen, sondern es werden Projekte initiiert, die sich mittelfristig selbst tragen sollen. Die Verbundenheit zwischen Projekt und "De Bakkerij" bleibt bestehen, dennoch sind die sozialen Konzepte eigenständig und haben eine eigene Organisation.

Gemein ist den beiden Organisationen, SETK und De Bakkerij, hingegen, dass diakonische Tätigkeit aus dem unmittelbaren Handlungsfeld der einzelnen Kirchengemeinden ausgelagert wird. Die Verantwortung und Durchführung liegt an einer anderen Stelle. Außerdem sind beide darauf bedacht, die Öffentlichkeit auf ihre Arbeit und die Problematik der Armut in der Gesellschaft aufmerksam zu machen. Dazu werden immer wieder neue Projekte initiiert.

Nach der kurzen Einführung in die Geschichte von "De Bakkerij" durch den Leiter der Einrichtung, Ton Snepvangers, erhielten wir eine zweiteilige Führung: Zunächst wurde uns das Gebäude des ehemaligen Backhauses vorgestellt. Früher diente die Bäckerei zur Versorgung bedürftiger Menschen mit Brot. Heute sind in dem Gebäude Büros und einzelne Arbeitszweige, Konferenzräume sowie zwei Läden untergebracht. Im Anschluss daran machten wir uns auf den Weg durch Leiden, wo wir diakonische Einrichtungen besuchen konnten.

Führung mit Berliner SchnautzeDie erste Station dabei war die Stichting de Binnenvest, die eine Anlaufstelle und Notunterkunft für Obdachlose bietet. Durch die Räumlichkeiten wurden wir von einem ehemaligen Obdachlosen, ursprünglich aus Berlin kommend, geführt. Seine humorvolle Art und „Berliner Schnauze“ lies den etwa 45-minütigen Besuch sehr kurzweilig und interessant werden. Dabei erklärte er uns, dass die Betten sowie sanitären Anlagen den Obdachlosen nur während den Abendstunden und über die Nacht zugänglich sind, um sie zu einer eigenständigen Wohnungssuche zu ermutigen (dabei helfen Sozialarbeiter). Tagsüber wird ihnen stattdessen die Möglichkeiten geboten, sich in einem Aufenthaltsraum sowie einem Alkoholraum aufzuhalten, was auch - speziell im Winter - regen Anspruch findet. Hier erhalten Menschen ohne festen Wohnsitz zudem eine Adresse und damit die Möglichkeit, Post zu bekommen.

Im Unterschied zu manch anderer Notunterkunft ist das Gebäude nicht abseits gelegen, sondern in ein modernes Mehrzweckgebäude integriert, in dem sich zudem Co-working Spaces, Büros für kreative Freiberufler, das Büro einer Wohnungsgenossenschaft und ein Restaurant befinden. Für die Sicherheit sorgen Sicherheitskräfte, da es des Öfteren zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommt.

HofjesWeiter ging es dann zum Sint Annahofje bzw. Sint Anna Aalmoeshuis, das auf eine Stiftung aus dem Jahr 1491 zurückgeht. In Leiden finden sich insgesamt 35 "hofjes" aus der Zeit des ausgehenden Mittelalters. Diese Innenhöfe werden jeweils von meist 13 Kleinstwohnungen (die Anzahl symbolisiert Jesus und seine Jünger) umrandet, die vorwiegend alleinstehenden, mittellosen Mitbürgerinnen kostenfrei zur Verfügung gestellt wurden. Zu dem Ensemble gehört im Falle des Sint Annahofje auch eine Kapelle, die den Bildersturm von 1566 unbeschadet überstanden hat.

Noch heute verwalten einzelne Stiftungen diese Wohnsiedlungen im Sinne der Stifter. Andere sind dem Fürsorgedienst der Stadt Leiden zugefallen. Auch heute noch wohnen dort, hinter einer hohen Mauer in hübschen kleinen Häuschen mit gepflegtem Innenhof, ältere Damen.

Nach dem Mittagessen in De Bakkerij erhielten wir von Prof. Hermann Noordegraaf einen Überblick über die Entwicklung von Diakonie und Dialkonat in den Niederlanden.

Im Gegensatz zu Deutschland war die dortige Reformation stärker von Calvin statt von Luther geprägt. Einer der Kerngedanken Calvins war: die Kirche muss sich dafür einsetzen, Armut und andere soziale und materielle Not zu bekämpfen und Arme und andere Menschen in Not zu unterstützen. Diese Verbindung zwischen Geistlichem und Sozialem muss ihren Ausdruck nach Meinung Calvins auch in der Liturgie finden, also in der konkreten Umsetzung innerhalb des Gottesdienstes.

1854 entstanden dann Diskussionen über die Frage, ob die Armenfürsorge eine Angelegenheit des Staates oder der Kirchen sei, wobei die Kirchen sich behaupten konnten und die Verantwortung für die Umsetzung des ersten nationalen Armengesetzes übertragen bekamen. Damals wurde der Armutsbegriff jedoch anders bewertet als heute. Armut wurde als Folge einer mangelhaften Moral – wie Faulheit, Alkoholmissbrauch oder fehlender Sparsamkeit – gesehen. Dieses Bild hat sich im Laufe der Jahre gewandelt, aber immer noch besteht ein Bedarf um die Aufklärung der Lebenslagen und Lebensgeschichten von Menschen in Armut, was sich die protestantischen Kirchen der Niederlande zur Aufgabe gemacht hat. Die Sensibilisierung der Öffentlichkeit und der Politik spielt im Selbstverständnis der Kirchen und in der Umsetzung diakonischer Hilfe eine zentrale Rolle.

1910 wurde die „Verenigung van Diakenen” („Vereinigung von Diakonen“) in der Niederländischen Reformierten Kirche gegründet. 1921 wurde sie in die „Federatie van Diakonieën“ („Förderation von Diakonien“) umgewandelt, welche sich für mehr Interesse an der Diakonie innerhalb der Kirche, sowie deren Erneuerung einsetzt.

lekker pannekoekjesWeiter ging der Vortrag mit den Kirchenordnungen. Die Diakonie wird als eine Angelegenheit der gesamten Gemeinde gesehen. Während früher die Diakonie Organisationen auf dem Gebiet von Pflege und Wohlfahrt initiiert hatte (ältere Menschen, Menschen mit Behinderung, psychisch Kranke), wurde diese Anbindung seit den 1960er Jahren als Folge von zunehmender staatlicher Subventionierung, Professionalisierung und Entkirchlichung der Gesellschaft stets unverbindlicher. Heute sind nahezu alle diese Organisationen von den Kirchen unabhängig. Diakonie ist in den Niederlanden vor allem gemeindliche Diakonie.

Nach dem Vortrag stand uns etwas freie Zeit zur Verfügung, die wir für eine Stadterkundung auf eigene Faust nutzen konnten. Abends sind wir als ganze Gruppe in ein traditionelles Pfannkuchen Restaurant gegangen- lekker! (Was in den Niederlanden so viel heißt wie schön, groß oder lecker!). Beim Essen und gemütlichen Beisammensein konnten wir die Schönheit einer diakonischen Gemeinschaft am eigenen Leib spüren.

Gegen 21 Uhr machten wir uns gemeinsam auf den Weg nach Den Haag. So haben wir den ganzen Tag in Leiden verbracht.

Samstag 15.01.2011

RittersaalAm nächsten Morgen nach dem Frühstück sollten wir unsere Hotelzimmer verlassen. Nachdem wir am Vormittag zusammen einen internationalen Markt besucht hatten, wollten wir noch einige Sehenswürdigkeiten, wie das „Herz der niederländischen Demokratie“, ansehen. Die Zeit verging so schnell, dass wir zuletzt zum Bahnhof eilen mussten. Unser Rückweg war etwas glücklicher als die Anreise. Statt neun Stunden, waren wir dieses Mal nur sechs unterwegs. Mit dem Kopf voll schöner Erinnerungen und einem Zuwachs an Wissen über die Diakonie in den Niederlanden ist unsere Reise zu einem glücklichen Ende gekommen.

 

von Boglarka Remann, Claudia Graf, Angelika Böttle

 

Seitenbearbeiter: E-Mail
Letzte Änderung: 22.05.2018
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